
Ich weiß nicht, wie das in anderen Ländern gehandhabt wird – Rücksicht. So tief war ich nie eingedrungen, um das verstanden zu haben. In Deutschland wird das unfassbar wichtig genommen. Sobald jemand ein Trauma erlebt hat, wird ihm/ihr quasi ein Freifahrt-Schein für jegliches (Fehl) Verhalten ausgestellt. Man kann die Person nicht bestrafen, sie ist ja traumatisiert und entsprechend schuldunfähig. So oder so ähnlich ist es in den Nachrichten und so bin ich aufgewachsen. Auch meine Mutter hatte ein schlimmes Kindheitserlebnis, was ihr Leben nachhaltig verändert hat und gleichzeitig das der Menschen in ihrem Umfeld. Jeder musste Rücksicht nehmen. Alles, was sie getan hat, wurde damit entschuldigt und erklärt. Ihr Leben lang hat sie keinerlei Konsequenzen erhalten, die sie zu einer Korrektur dieses Irrwegs gezwungen hätten.
Aktuell verarbeite ich immer noch das daraus entstandene Trauma in mir. Gefühle kommen hoch und ich bin zum Teil auch wütend. Hätte sie für ihre „Altlasten“ Verantwortung übernommen und diese geheilt oder aufgelöst, hätte sie mich nicht in ein Schutzverhalten gezwungen. Eine Überlebensstrategie, die ungesund war. Ich war damals ein Kind, ich musste mich ihr anpassen, was hätte ich sonst auch tun sollen? Hätte die Gesellschaft ihr Grenzen gesetzt, statt Rücksicht zu nehmen, wäre das vielleicht passiert.
Trotzdem bin ich erwachsen geworden und hatte ein tolles Leben. Nicht in jeder Hinsicht, aber das Leben ist ja groß genug, dass man in vielen Bereichen wachsen und glücklich sein kann – auch wenn es nicht überall gleichermaßen klappt. Jetzt kann ich es positiv oder negativ sehen – positiv: ich bin „erst“ Mitte vierzig und kann es besser machen. Negativ: ich habe die Hälfte meines Lebens unnötig oft gelitten. Beides ist wahr.
Persönlich finde ich, dass man die Rücksichtnahme nicht übertreiben sollte. Man sollte es zur Kenntnis nehmen, aber die Person sollte sich nicht darauf ausruhen dürfen. Es als Ausrede benutzen um nicht an sich zu arbeiten. Auch ein Trauma sollte ein Haltbarkeitsdatum haben. Das wäre echte Solidarität mit den Mitmenschen.